Neujahrsansprachen sind austauschbar – sie klingen doch eh immer gleich. Stimmt das? Ein Quiz mit Rede-Zitaten aus rund 100 Jahren. Weiterlesen →
Kopfzerbrechen in Weimar
Vor längerer Zeit berichtete ich über den Schädel Friedrich Schillers – ein begehrtes Relikt, so begehrt, dass sich seit nunmehr gut 180 Jahren immer wieder Menschen bereit finden, zwischen vermoderten Knochen zu wühlen, um den großen deutschen Dichter zu identifizieren. Zwei Schädel konkurrieren seither um das Privileg, einstmals Schillers Hirn beherbergt zu haben.
Inzwischen ist das Rätsel gelöst. Aber: An seine Stelle trat ein neues Geheimnis. Es steht zu vermuten, dass wir es mit einem postmortalen Verbrechen zu tun haben. Und ich habe einen fürchterlichen Verdacht, der, wenn er zutrifft, die Welt der Weimarer Klassik nachhaltig verstören wird …
Doch von Anfang an: Schiller, der im Jahr 1805 mit 45 Jahren in Weimar starb, war bei Nacht in einer Gemeinschaftsgruft bestattet worden. Bei mehreren Suchaktionen im 19. und 20. Jahrhundert fanden sich unter den rund 60 in Frage kommenden Toten, die das Kassengewölbe mit Schiller teilten, neben einem einigermaßen passenden Körperskelett zwei Totenköpfe, von denen ihre Finder steif und fest behaupteten, „ihrer“ sei der Schillersche. Sicherheitshalber wurden beide Schädel – nach einigen Umwegen – in der Fürstengruft auf dem Historischen Friedhof zu Weimar neben den sterblichen Überresten Goethes aufbewahrt.
Zum 250. Geburtstag Friedrich Schillers im Jahr 2009 sollte das Rätsel nun endlich gelöst werden – schließlich hat man heute andere Möglichkeiten als weiland die Schädelforscher des 19. Jahrhunderts. Die Klassik Stiftung Weimar und der MDR (der das populäre Projekt filmisch dokumentierte) ließen also beide Schädel und das Skelett von Anthropologen und Molekularbiologen untersuchen. Das Ergebnis überraschte.
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Mitten im Leben
Manchmal hilft es ja, wenn man sich in festen Bahnen bewegen kann. Wenn es Rituale gibt, an denen man sich bei einer Trauerfeier festhalten kann: Wer wann was sagt oder tut, und was man bei so einer Gelegenheit eben nicht tut. Andererseits: Das alles über Bord zu werfen, kann sich sehr befreiend anfühlen.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich einmal am Bemalen eines Sargs beteiligen würde. Weiterlesen →
Eine Erinnerung
Februar 1995: Fünf junge Leute machen sich in zwei Autos auf den Weg vom Rhein-Main- ins Ruhrgebiet. Im Gepäck: PA-Anlage, Mikros, Keyboard, Gitarren. Das Ziel: Der Club „Neue Liebe“ in Essen. Dort würden wir am Abend bei einem Song Contest auftreten.
Wir nannten uns „The Fresh Fruits“ und alberten von Fahrtbeginn an ziemlich herum. Nur eine professionelle Musikerin war unter uns, wir anderen gingen allenfalls als Amateure durch. Ich hatte die Musik zu diesem Zeitpunkt schon längst an den Nagel gehängt und ewig auf keiner Bühne mehr gestanden. Man könnte also durchaus auf den Gedanken kommen, das ganze Unterfangen sei eine Schnapsidee – was in gewisser Hinsicht zutraf, denn Veranstalter war ein Tequila-Hersteller, der zum Musikwettbewerb aufgerufen hatte. D. hatte einen Song geschrieben und eingereicht, und der gefiel den Schnapsbrennern so gut, dass sie es in die Vorausscheidung schaffte. Die bestand aus mehreren Konzerten, bei denen jeweils eine Jury und das Publikum ihre Favoriten-Band wählten.
Und so kam es zur Gründung der Ein-Tages-Formation „D. & The Fresh Fruits“: T. am Bass, H. am Keyboard, K. und ich unterstützten Sängerin D. und übernahmen den Background-Gesang. Dazu dachten wir uns eine irre Tanz-Performance aus, für die man uns heutzutage vermutlich einem Drogentest unterziehen würde. Allein für den Spaß, den wir bei den Proben hatten, lohnte sich die Sache schon. Keine von uns ahnte, dass es noch besser kommen würde.
Obwohl uns auf der Autobahn eines der Autos im Stich ließ und wir uns samt Instrumenten und Technik in den anderen Wagen quetschen mussten; obwohl unter den Konkurrenten auch die Tochter eines bekannten deutschen Entertainers war, die uns kurz vor dem Beginn der Veranstaltung bezichtigte, wir hätten ihr Playback geklaut; obwohl wir unmittelbar vor unserem Auftritt dann doch noch nervös geworden und einen Tequila gekippt hatten: Wir gewannen die Vorausscheidung!
Den Rest der Nacht verbrachten wir in seliger Entrückung.
Ein paar Wochen später kam eine CD mit den Siegertiteln der Vorausscheidungskonzerte auf den Markt, aus denen wiederum der finale Gewinner gewählt werden konnte. Wer das am Ende war – ich weiß es heute nicht mehr. Vielleicht Lailo, offenbar die einzige damals teilnehmende Band, die heute noch zu existieren scheint.
Vorletzte Nacht bin ich aufgewacht, ohne erkennbaren Grund. Der Wecker zeigte halb vier. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder einschlafen konnte. Später erfuhr ich, dass H. in dieser Nacht um halb vier in ihrem Bett im Hospiz gestorben war.
So, wie die Erinnerung an diesen einen Abend wieder lebendig wird, so sehe ich sie vor mir: H., die vor fast fünfzehn Jahren in einem Club in Essen in die Tasten gehauen hatte wie ein Profi. Die das Leben so liebte, oft mehr als die meisten anderen. Die sich über alles Schöne unbändig freuen konnte. Die beim gemeinsamen Fußballgucken im Sommer 2006 schimpfen konnte wie ein Rohrspatz. Die es schaffte, mir noch vor ein paar Monaten eine riesengroße Freude zu machen, weil sie da war, obwohl es ihr sehr schwer fiel. Sie wurde 40 Jahre alt. Ich frage nicht mehr, warum.
Schön, das es dich gab, H.
Wenn Engel einsam sind
in ihren Kreisen,
dann gehen sie von Zeit
zu Zeit auf Reisen.Sie suchen auf der ganzen Welt
nach ihresgleichen,
nach Engeln, die in Menschgestalt
durchs Leben streichen.Sie nehmen diese mit
zu sich nach Haus –
für uns sieht dies Verschwinden
dann wie Sterben aus.
Renate Eggert-Schwarten
„Trauer kennen sie nicht“
Stille. Die Nachricht vom Tod Robert Enkes löst für einen kurzen Moment etwas aus, das in Zeitungsredaktionen sehr selten ist, auch in unserer. Die Redaktion ist nur noch spärlich besetzt um diese Zeit, lediglich die Spätdienste für Print und Online sind noch da. Ein gedämpftes Raunen wandert dann durch den riesigen Raum. Wer ist tot? Was hatte der denn? Wie ist das denn passiert? Es dauert kaum einen Augenblick, dann wird die Stille von hektischer Betriebsamkeit abgelöst. Denn das ist ja unser Job: diese Fragen zu beantworten. Der Sport-Kollege greift zum Telefon, versucht, mehr Informationen zu bekommen. Für die erste Online-Meldung begnügen wir uns mit einem mageren Absatz; noch weiß man ja kaum mehr, als dass der Nationaltorwart tot ist, tot sein soll, müssen wir vorsichtiger formulieren, aber schon Minuten später wird die Nachricht hart. Die Gestaltung der Zeitungstitelseite und des Sportressorts wird umgeworfen. Wir durchsuchen das elektronische Archiv nach älteren Bildern von Robert Enke. Eine Stunde später ist der Agenturtext auf der Homepage durch ein Autorenstück ersetzt, zeigen wir Enkes Karrierestationen in Bildern, haben wir ein Interview mit ihm von Weihnachten vor einem Jahr aus dem Archiv geholt.
Nachts, auf dem Heimweg in der Tram, denk ich: Morgen geht das erst richtig los. Dann werden die unscharfen Bilder von der Unglücksstelle, die die Agenturen seit 21:30 Uhr liefern (da ist Enkes Sprung vor einen Zug kaum mehr als drei Stunden her) zu üppigen Fotogalerien aufgeblasen. Dann werden Kommentarfelder umfunktioniert zu elektronischen Kondolenzbüchern (Büchern?) – man weiß gar nicht, wo man zuerst kondolieren soll, und ahnt schnell: Ums Kondolieren geht’s gar nicht. Kein Angehöriger kriegt das je zu sehen. Andere „Selbstmörder“ werden ausgegraben, buchstäblich – um sie als Suizid-Parade in Bilderstrecken zu Klicks zu verwursten. Eine Agentur liefert eine „Karte zum Selbstmord von Robert Enke (Hochformat 60 x 120 mm)“: ein paar Straßenlinien, darüber zwei Pfeile mit Info-Fenstern („geparkter Wagen“, „Unglücksstelle“). Damit wir uns das alles besser vorstellen können. Damit wir alle dabei sein können. Damit der Wirtschaftszweig, für den ich arbeite, möglichst viel Geld verdient.
Die Pietätlosigkeit der Medien zu geißeln mag müßig sein. Sie selbst haben sich davon nie bremsen lassen. Trauer kennen sie nicht, sie sind über etwas schon hinweg, bevor es geschehen ist.
schreibt Dirk Gieselmann bei den 11 Freunden so treffend. Autsch.
Muss das so sein? Geht das nicht anders? Pietätvoller? Nachdenklicher? Oder einfach nur etwas weniger geschmacklos?
Klar geht das.
Wo endet unser Job, umfassend zu informieren, und wo beginnt der blanke Voyeurismus, der sich nicht um Gefühle anderer schert? Im reflexbehafteten Arbeitsalltag bleibt schon mal unbemerkt, dass die Grenze überschritten ist. Man muss ja nicht gleich jeden Tag aufs Neue ins Philosophieren kommen, darüber, dass die Leute sowas nun mal lesen/hören/sehen wollen, und dass Medienkonzerne nun mal gewinnbringend arbeiten müssen. Oft geht’s durchaus auch eine Nummer kleiner.
Alles, was es braucht, ist ein wenig Innehalten. Eine Art inneres Stoppschild. Man könnte sich am Schreibtisch zum Beispiel mal kurz die simple Frage stellen: Was werden die Angehörigen empfinden, wenn sie sehen, was ich hier tue? Oder, wenn so viel Empathie schwer fällt: Wie würde ich das finden, wenn ich direkt betroffen wäre? So viel Zeit muss nicht nur sein – so viel Zeit ist meist auch. Wir haben ja auch sonst Zeit für jeden Scheiß. Vielleicht hilft der Rückgriff aufs eigene Empfinden, um sich bei der journalistischen Arbeit wieder mal zu erden. Medien mögen Trauer nicht kennen, aber Medienleute kennen sie. Gott sei Dank.
Tatort Rundschau
„Was ist denn mit der Rundschau los? Ist die pleite gegangen?“, fragt draußen eine Passantin, als sie die unbekannten Schriftzüge über dem Eingang des FR-Gebäudes sieht. Natürlich nicht. Der Hessische Rundfunk dreht an diesem Tag ein paar Szenen für den neuen Tatort mit Ulrich Tukur, die in einer Zeitungsredaktion spielen. Das fiktive Blatt heißt (*hüstel*) „Blick ins Zeitgeschehen“, und die Schlagzeile auf dem lausig kontrastarm gedruckten Fake-Titelblatt, das auf eine andere Zeitung geklebt ist und drinnen überall auf den Tischen liegt, lautet: „Baby im Müll – Mutter auf Mallorca“. Nunja.
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