Schamgrenzen

Stürmische Zeiten: Draußen biegt der Wind die Bäume, wirbelt Blätter und Papier hoch in die Luft. Ab und zu fliegen die Schlagzeilen der vergangenen Woche an meinem Fenster vorbei. (Wie wird man stürmische Atmosphäre filmisch darstellen, wenn es einst keine Zeitungen mehr gibt?) Eine Frau legt ihre Ämter nach einer Alkoholfahrt nieder und nimmt ihre eigene Integrität so ernst, dass sich die Herren in hohen Ämtern die Augen reiben. Herrje! Was, wenn das Schule macht?

Erinnert sich noch jemand an Otto Wiesheu von der CSU? Der hatte sich in den 80er Jahren mit mehr als 1,7 Promille ans Steuer gesetzt und einen Menschen getötet. Später wurde er in Bayern Staatsminister für Verkehr. In Hessen regiert noch immer ein Ministerpräsident der CDU, der die Öffentlichkeit über Schwarzgeld und gefälschte jüdische Vermächtnisse belogen hat. In Berlin verteidigt dieser Tage der Grüne Jerzy Montag die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch und findet allen Ernstes, es sei unverhältnismäßig, einen 75-jährigen für Taten zu bestrafen, die 30 oder 40 Jahre zurückliegen. Wie bitte? Geht’s noch? Tausende Opas dieser Sorte sollen hierzulande gemütlich im Lehnstuhl sitzen bleiben, ihre Enkeltöchter auf dem Schoß, weil sie doch so arm und alt und hilflos wirken und überhaupt, alles so lange her ist, quasi schon gar nicht mehr wahr?!

Zeit, die Schamgrenzen in diesem Land neu zu ziehen.

You are not a newspaper anymore

Regina McCombs wirkte verwundert. Die Journalisten-Ausbilderin vom Poynter Institute hatte soeben einer Schar von knapp 100 deutschen Redaktionsleitern, Chefredakteuren und Online-Journalisten im Institut für praktische Journalismusforschung im bitterkalten Leipzig einen Überblick gegeben über die Crossmedia-Strategien amerikanischer Zeitungsverlage. Sie hatte einige Beispiele mitgebracht, die man hierzulande lange suchen muss:

Talking to the Taliban , eine Multimedia-Reportage der kanadischen Zeitung The Globe and Mail:

13 seconds in August: Die Star Tribune in Minneapolis (bei der McCombs Multimediaredakteurin war) lokalisierte auf einem Satellitenfoto die Menschen, die sich im Sommer 2007 beim Einsturz auf der Mississippi-Brücke aufhielten, und besuchte sie mit der Videokamera
13 seconds in August

Is it besser to buy or to rent? Eine interaktives Tool für die Immobilien-Finanzplanung:
Is it better to buy or to rent

Regina McCombs hatte berichtet, mit welcher Selbstverständlichkeit sich US-Kollegen in den neuen Medien bewegen, mit wie viel Entdeckerlust viele von ihnen die Möglichkeiten nutzen, die soziale Netzwerke, Twitter, Blogs für sie selbst und ihre Arbeit bieten (Colonel Tribune, Jason DeRusha). Wie Accounts bei Facebook jenseits der Standard-Anmutung aussehen können (Minnesota Daily). Was Apps an Mehrwert bieten können (Indystar). Welche Ideen für lokale Angebote es gibt (Tampabay, Sunlight Labs)

Und dann, nach ihrem durchaus inspirierendem Vortrag, hörte sie dies: „Aber all das kostet doch Zeit!“

Joah. Stimmt. Is so.

Man stelle sich kurz vor, dies sei keine Journalistentagung, sondern ein Chirurgenkongress. Und auf einen kurzen Abriss der modernen Technologien in der Mikrochirurgie würde der Einwand folgen: Fein, ja, aber hey: Eigentlich habe ich nicht die Zeit, mich damit zu beschäftigen.

Berufsbilder ändern sich. Alle. Vielleicht sind Blogs, Twitter, Facebook (oder welcher Dienst auch immer den nächsten Hype prägen wird) tatsächlich nicht die richtigen Plattformen für die eigene Arbeit – mag sein. Aber um das zu beurteilen, sollte man diese Werkzeuge zumindest kennen. Von gestandenen Kollegen hörte ich neulich, Web 2.0 sei ein Sumpf, in den man sich am besten gar nicht erst hinein begebe. Dabei ist das schon immer unser Job gewesen: die Spreu vom Weizen, die relevanten Informationen vom Blabla zu trennen.

Regina McCombs hatte ein paar Empfehlungen für ihre deutschen Kollegen im Gepäck:

  • Vergrößert eure Kenntnisse und Fähigkeiten. Lernt. Setzt Menschen in eure Newsrooms, die es verstehen, den richtigen Kanal zu finden und Stories medienübergreifend zu erzählen.
  • Kommuniziert ernsthaft mit euren Lesern. Dafür gibt es viele Wege. Wählt euch die passenden aus.
  • Findet eure Nische. Fragt euch: Was nutzt den Usern, besonders jenen in unserer Gegend? Befasst euch mit Geo-Kodierung, entwickelt lokalisierbare Inhalte. Sorgt dafür, dass eure interaktiven Inhalte leichter gefunden werden.
  • Stellt euch auf mobile Dienste ein. Entwickelt attraktive Angebote. Spätestens 2020 wird das der dominierende Weg ins Web sein.
  • Kümmert euch um Branding. Nicht nur für das Medienunternehmen, sondern auch für den einzelnen Journalisten.
  • Habt keine Angst vor der Feststellung: Wir sind keine Zeitung mehr. Hört auf, so zu handeln, als wärt ihr nur ein Printmedium.
  • Nehmt euch die Zeit für all das. Sonst läuft sie für euch ab.

Bookmark-Sammlung „Best Practices“ – Weitere Beispiele für Multimedia-Journalismus

Als Mutter Goethe ihr Herz verlor

Für Skandale war nicht nur Johann Wolfgang Goethe gut. Noch bevor der Sohn im fernen Weimar seine wilde Ehe mit Christiane Vulpius begann, stürzte sich seine Mutter Katharina Elisabeth in Frankfurt in eine Liaison mit einem sehr viel jüngeren Mann. Mochte die Frankfurter Gesellschaft noch so die Nase rümpfen – um Frau Aja, wie Goethes Mutter von dessen Freunden genannt wurde und sie selbst viele ihrer Briefe unterschrieb, war es geschehen, als sie den jungen Mann das erste Mal erblickte. Altersunterschied hin oder her.
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Seuchengefahr

Unter allen schlechten Nachrichten aus Haiti ist immer wieder auch eine, die bei erfahrenen Katastrophenhelfern Kopfschütteln auslöst: Von Toten, die nicht schnellstens unter die Erde kommen, gehe Seuchengefahr aus. Richard Munz bringen Fehlinformationen wie diese nach eigenem Bekunden „fast zur Verzweiflung“. Munz ist Notfallchirurg und war in vielen Katastrophengebieten im Einsatz. Statt ob der Lernresistenz der Medien zu verzweifeln, meldete er sich bei der FR: „Entgegen den jetzigen stereotypen Meldungen gibt es kein Leichengift und Leichen nach Naturkatastrophen stellen also auch keinerlei Seuchengefahr dar“. Die gehe vielmehr von den Lebenden aus – von ihren Ausscheidungen, die, wenn Toiletten fehlen, das Trinkwasser verseuchen können.

Die Hektik, mit der Tote nach Katastrophen in Massengräbern beerdigt werden, habe vor allem eins zur Folge: Sie bringe Leid über Familien, die nicht wissen, wo sie ihre Angehörigen betrauern können. Seuchengefahr werde durch solchen Aktionismus nicht gebannt. „Ich werde auf jeden Fall versuchen, diese Botschaft in Haiti in jedes Mikrofon zu schreien, das mir entgegengehalten wird.“

Mit der Mär vom Leichengift räumt auch das Bestatterblog auf.