Anzeichen von Lebenswillen

Ich fand mich immer vorbildlich, weil ich nach ungewollt tiefen Einblicken in die Intensivmedizin eine Patientenverfügung samt Vorsorgevollmacht gemacht hatte. Heute bin ich nicht mehr so sicher. Werde ich das, was ich da festgelegt habe, immer noch so wollen, wenn es soweit ist?

Kann man wirklich eine Antwort geben, ohne ganz genau zu wissen, wie die Frage lautet? Eine Entscheidung über Leben und Tod treffen, ohne zu wissen, um welche Sorte Leben es gehen wird? Heute bestimmen, was morgen für mich noch Wert haben wird – und was nicht? Andererseits: Ist es legitim, die Last einer Entscheidung allein den Liebsten aufzubürden? Oder den Ärzten? Wenn die Lage hoffnungslos erscheint, beginnen Mediziner die Angehörigen nach letzten Wünschen zu fragen – auch, so habe ich es jedenfalls erlebt, aus eigener Hilflosigkeit.

Im April entscheidet der Bundestag über die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen. Der Nationale Ethikrat hat eine Stellungnahme vorgelegt, die mich nachdenklich gemacht hat. Wenn eine konkrete medizinische Situation eintritt, für die in einer Patientenverfügung Festlegungen getroffen sind, dann soll die Verfügung Vorrang gegenüber „Anzeichen von Lebenswillen“ haben. Im Klartext: Das Papier hätte mehr Gewicht als der Mensch, auch wenn der alles andere als lebensmüde wirkt?

Deutlich. Höher.

Bewegte Woche bei der Frankfurter Rundschau. Die stellvertretende Chefredakteurin Brigitte Fehrle verlässt uns Richtung Berliner Büro der „Zeit“.

Gepackt haben auch rund 60 Redakteurinnen und Redakteure – für einen Büro-Ringtausch innerhalb des Hauses. Morgen ziehen wir vom vierten in den fünften Stock.

Liebe Online-Kollegen – als amtierender Spätdienst dieser Woche habe ich für euch die letzten Sekunden in unserer guten Stube dokumentiert (Musik: „It ain’t right“):


Die Letzte macht das Licht aus

Fremde Hände

Unbeständig, 11 Grad. Geht als regnerischer Frühlingstag durch, meine ich. Also dann.

Ich hatte meinen Koffer nur wenige Momente aus den Augen gelassen, als ich in dem Buchladen am Frankfurter Hauptbahnhof nach Reiseliteratur schaute. Immer wieder sah ich von den Buchtiteln auf und hinüber zu der Stelle, wo ich mein Gepäck abgestellt hatte. Und während ich aufmerksam Wäsche und Zahnbürste im Auge behielt, stahl mir jemand aus dem Rucksack, den ich am Körper trug, die Geldbörse.

Dumm gelaufen.

Hab ich dir nicht immer gesagt: Pass auf, Kindchen, die Welt ist böse!, meinte der weltbeste Kollege später. Jaja. Hinterher, und so. Niemals Wertsachen auf dem Rücken tragen. Geld und Papiere getrennt aufbewahren. Ich bemerkte den Diebstahl erst, als ich im ICE nach Hamburg saß (ohne gültiges Ticket), und es dauerte wiederum eine knappe Stunde, bis mir der Rempler im Buchladen wieder einfiel. Klassisch. Tausendmal gesehen, sogar selbst drüber geschrieben, und dann das. Peinlich.

Das Aufnehmen einer simplen Anzeige gegen Unbekannt lässt einen einfachen Computer bei der Bundespolizei in Hamburg mehrmals abstürzen. Ich frag mich: Wie wollen die da all die DSL-bewaffneten Dozenten auf der Universität des Terrors dingfest machen? Der Polizeibeamte, Typ Jan Fedder, macht sich wiederholt über meinen zweiten Vornamen lustig, hört damit aber abrupt auf, als ich ihn nach seinem frage.

Unangenehmer als der Schaden ist der Gedanke daran, dass ein fremder Mensch von der Sorte, die anderen Leuten Geld stiehlt, meine privaten Fotos, meine bekritzelten Zettelchen, meine Nachrichten mit Erinnerungswert in seinen Händen gehalten hat. Dass mir jemand so nah gekommen ist, dem ich nie freiwillig diesen Blick auf mein Privatleben offenbart hätte. Alles andere ist ersetzbar. (Brauche ich überhaupt einen neuen Personalausweis? Und einen Führerschein, wo ich doch kaum noch Auto fahre?)

Fürs nächste Mal:
Zentrale Notfall-Sperre von Kredit- und EC-Karten (einheitliche Nummer für alle Institute): 116 116
Bundespolizei: 01805 234566
Fund-Service-Hotline der Bahn: 01805 990599

Phantomschmerz

Am dritten Tag erreichten wir unser Ziel – und das war höchste Zeit. Auf der El Colono, einem alterschwachen Kahn der chilenischen Schifffahrtsgesellschaft Transmarchilay, herrschten zu diesem Zeitpunkt bedenkliche hygienische Zustände: 200 Passagiere, ein gutes Dutzend Toiletten – und das Klopapier war bereits am zweiten Tag ausgegangen. Manchmal muss man Opfer bringen. Wir wollten ihn unbedingt sehen, den Nationalpark Laguna San Rafael, eine der berühmten Sehenswürdigkeiten auf halbem Wege von Patagonien nach Feuerland.

Treibende Eisberge kündeten seit dem Morgen davon, dass der Gletscher San Valentín nah war. Als er gegen Mittag in Sichtweite kam, stimmten unsere chilenischen Mitreisenden an Deck wie selbstverständlich die Nationalhymne an. Ein Freund aus Santiago, der unsere peinlich berührten Blicke sah, versuchte, uns das Nationalgefühl der Chilenen zu erklären: Es sei der Stolz eines Volkes, das die Diktatur aus eigener Kraft abgeschüttelt habe.
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Selber schuld

Als die Kinder Kröten nach Hause brachten und im Zirkus nicht mehr lachten, als sie ihr Brot nicht mehr aßen und stattdessen die Kröten fraßen, als sie Teddybären zerrissen und in Autoreifen bissen, als schließlich Kindergärten brannten und Lehrer um ihr Leben rannten, da wussten wir, es ist aus.

Jemand, nein etwas muss schuld sein an dieser gottverdammten Pleite. Das Internet, das böse. Es verdirbt uns unsere Kinder. Es macht blauäugige kleine Engel zu Monstern. Chats, WLAN-Parties, was ist das alles überhaupt, wir sind auch ohne all das groß geworden, und wenn es auch vieles gab zu unserer Zeit, virtuell getötet wurde jedenfalls nicht. Experten im Studio erklären uns, wie wir unsere Kinder vor diesem Interdings schützen können, als ob es sich eine ansteckende Krankheit handelte. Wir ziehen skeptisch die Augenbrauen hoch, wenn sie solche merkwürdigen Dinge tun wie bloggen oder chatten, aber wir haben nichts dagegen, wenn sie stattdessen stundenlang RTL gucken.

Es ist aus. Zu spät. Selbst wenn wir den Knopf drücken. Die Sache ist nämlich die: Wir haben unsere Kinder nicht an irgendein Paralleluniversum verloren – sie haben uns verloren. Wir bemerken unsere Kinder nicht mehr. Wir bemerken sie nicht, wenn wir bei Rot über die Straße gehen, obwohl sie uns dabei zusehen; wir bemerken sie nicht, wenn sie in der Nachbarwohnung um Hilfe rufen; wir sehen ihre Schrammen nicht, die äußerlichen und die inneren, und wenn, dann fragen wir nicht. Wir bemerken sie nicht einmal mehr, wenn sie direkt neben uns sitzen, während wir uns Enthauptungs-Videos in den Fernseh-Nachrichten anschauen. Wir lassen sie ungebremst gegen Wände laufen. Wir lassen sie allein.

Unsere Kleinen da draußen verbrennen die Erde, es kochen die Flüsse, es verdampfen die Meere, oben am Himmel der kleine Bär schläft auch nicht mehr. Ja, unsere Kleinen, unsere Kleinen haben uns den Krieg erklärt, haben Dir, Mutter, mir, Vater, den Krieg erklärt, weil im Raum Waldburg, an der Grenze, hat dieser gottverdammte Panzer den Osterhasen überrollt.
Ludwig Hirsch, Die gottverdammte Pleite, 1979