Zäsur

Der Tag, der die Welt veränderte ist eine bis zum Überdruss strapazierte Beschreibung. Wie sehr sie dennoch zutrifft, wird mir bewusst, wenn ich in Gedanken zu erklären versuche, was in den vergangenen fünf Jahren geschehen ist – jemanden, der den 11. September 2001 nicht mehr erlebt hat. Jemandem, der gestorben ist, als die Welt noch eine andere war.

Erst wenige Tage vor dem 11. September 2001 war ich von einer Print- in die Online-Redaktion gewechselt, kannte die Arbeitsabläufe noch nicht. An diesem Mittag ging ich nicht mit den anderen Kollegen in die Kantine; ich glaube, ich war damit beschäftigt, mich einzurichten, fehlende Programme zu installieren… Dann kam eine Rundmail aus der Chefredaktion: „In New York ist ein Flugzeug ins World Trade Center geflogen. Nachrichten einschalten!“ Ich schaute mich um – in meinem neuen Büro gab es damals kein Fernsehgerät, und über eine TV-Karte verfügte lediglich der Rechner des Ressortleiters.

Ich ging ein Stockwerk tiefer in meine frühere Redaktion, wo der Fernseher bereits lief, und traf einen meiner Ex-Kollegen an. Er stand vor dem Gerät, die Hand vor dem Mund. Auf dem Bildschirm waren die Türme zu sehen und eine riesige Rauchwolke, die seitlich in den Himmel ragte. Ich fragte so etwas wie „Eine kleine Propellermaschine ist da reingeflogen, hab ich gehört?“ Natürlich hatte ich das so nicht gehört – aber es war das Bild, das ich wie selbstverständlich im Kopf hatte. Etwas anderes war schlicht nicht vorstellbar, damals.

In der Welt danach ist fast alles vorstellbar geworden.

Mitten in Deutschland

Vor mir beim Optiker: Ein Ehepaar, er in luftigem weißen Gewand, Kopfbedeckung und Bart, sie in schwarzer Burka, nur ein Sehschlitz frei. Er lässt sich von der Verkäuferin über Kontaktlinsen beraten. Nach wenigen Minuten wird klar: Es geht gar nicht um ihn, es geht um seine Frau, um deren Augen, um deren Kontaktlinsen. Er spricht für sie. Auch die Verkäuferin weiß das jetzt. Aber sie redet weiterhin ausschließlich mit dem Mann. Sie schaut die Frau nicht einmal an. Zwischendurch macht die Frau hinter dem schwarzen Tuch Bemerkungen, aus denen selbst ich in einigen Metern Entfernung heraushöre, dass sie gut deutsch versteht und spricht. Doch auch das veranlasst die Verkäuferin nicht, sich ihr zuzuwenden – der Person, um deren Belange es schließlich geht. Weiterlesen →

Pfusch im Blatt

Immer wieder samstags, wenn für die Zeitungslektüre etwas mehr Zeit als sonst bleibt, wächst mein Verständnis dafür, warum es dieses Blatt einfach nicht aus der Krise schafft. Der Aufsetzer auf Seite 1 – ein exponierter Platz für die kleine exklusive, häufig schräge Geschichte – dreht sich um die finanziellen Probleme des Anwalts Edward Fagan und hastet so schnell und ohne Erläuterungen von einer vagen Andeutung zur nächsten, dass dem Ganzen wohl nur noch folgen kann, wer den Herrn und dessen Lebensgeschichte persönlich kennt. Allen anderen bleibt – wie mir – nur ein großes HÄ? in einer überdimensionalen, gedachten Gedankenblase über der krausen Stirn – und der Ärger über mich selbst, weil ich den Text bis zum bitteren Ende gelesen habe.

Der Leitartikel auf Seite 3 schlendert zwei volle Absätze lang gemächlich um Begrifflichkeiten herum, bis sich der Kommentator endlich dazu herablässt, mir mitzuteilen, um welches Thema es geht. Im Regionalteil werden mir „Tipps vom PR-Profi“ auf Seite 32 versprochen, das zugehörige Interview finde ich, nach einigem Blättern, dann auf Seite 29. Macht aber eigentlich nichts, denn die angekündigten Ratschläge fehlen eh: Die Antwort des Experten auf die Frage nach einem konkreten Tipp lautet: „Der wäre honorarpflichtig.“ Um das zu erfahren, musste ich mich fast komplett durch ein grottenlangweiliges nur mäßig interessantes Interview quälen.

Die Konkurrenz aus dem Frankfurter Osten hat leider auch nichts zu bieten. Auf der einen popeligen Lokalseite, die meinen Wohnort betrifft, werden üppige viereinhalb Spalten für ein Gruppenfoto verschwendet. Die Bildunterschrift: Die Kreis-SPD besuchte vor wenigen Tagen die Bepo (Bereitschaftspolizei) in M. Vor den Einsatzfahrzeugen stellten sich die Mitglieder der SPD-Kreistagsfraktion und die Führung der Bereitschaftspolizeiabteilung M. fürs Foto auf: Von links nach rechts… Wahnsinns-News.

Mal ehrlich, liebe Herausgeber, Verleger und Redaktionen: Würdet ihr für so einen Mist, wie ihr ihn euren Lesern zumutet, auch noch Geld bezahlen? Seht ihr.

Nette Nachbarn gesucht

Mindestens fünf Zimmer, geschätzte 120 Quadratmeter mit – wie wir glauben – Parkett, riesige Fensterfront, dahinter ein großer Balkon mit Blick ins Grüne, unmittelbar am Ortsrand gelegen, fünf Minuten Fußweg zur S-Bahn und darin entweder 15 Minuten bis Frankfurt oder zehn Minuten bis Hanau – Interesse? Die Wohnung neben uns ist gerade frei geworden. Und wir wünschen uns endlich endlich nette Leute im Haus, deren Lebensinhalt nicht darin besteht, die Kinder ringsherum mit Beschimpfungen und die Erwachsenen mit Drohungen und Klagen zu überziehen. Mit denen man auch mal einen gemeinsamen Plausch auf der Dachterrasse halten oder sich das Katzensitting teilen kann. Kurz: Echte Nachbarn. Die alten waren keine, leider.

Verdachtsmomente

Die S-Bahn muss aufgrund polizeilicher Anordnung geräumt werden. Bitte steigen Sie alle aus.

Langsam, ganz langsam schleicht sich so etwas wie Gewöhnung ein. Man verlässt die Bahn, ruft beim Arbeitgeber an, um die Verspätung mitzuteilen, plaudert mit den anderen Wartenden am Bahnsteig, fragt sich scherzend, ob es wirklich so sinnvoll ist, eine S-Bahn wegen des Verdachts auf eine Kofferbombe zu räumen und sie dann am überfüllten Bahnsteig stehenzulassen, und lacht dabei ein wenig unsicher.

Wir tun nur so routiniert. In Wahrheit schauen wir uns immer öfter um. Betrachten herrenlose Gepäckstücke besitzerinnen- besitzerlose Gepäckstückinnen und Gepäckstücke (der Grund auch für diese Räumung) mit wachsender Unruhe. Beobachten aus den Augenwinkeln heimlich unsere Mitreisenden. Vermutlich werden wir bald wieder aufs Auto umsteigen und, erleichtert am Steuer eine Zigarette rauchend, über die Landstraße rasen. Sicher ist sicher.

Bis dahin bekommen wir Rat vom Boulevard, der aus jedem (Fehl-)Alarm Auflage saugt. Wie kann ich einen Verdächtigen erkennen? … Schwitzende Personen, Reisende mit schwerem Gepäck, Schwangere, Personen mit Sonnenbrillen und Mützen.